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Dieses Wandbild musste nicht weg

Die Bilder von Franz Gertsch verleihen dem flüchtigen Moment Ewigkeit, so wie Faust es sich gewünscht hätte. Dieses starke Empfinden stellte sich bei mir ein, als ich Anfang der 80er Jahre vor den grossformatigen Bildern aus der Luciano-Serie im Kunsthaus Zürich stand. Erstmals mit Gertschs Werk konfrontiert, war ich von der unübertrefflichen physischen Präsenz der Momentaufnahme fasziniert. Ich kehrte mehrmals in die Ausstellung zurück, lockte Freunde an. Gesteigert hat sich dieses unmittelbare Erleben Jahre später in Frankfurt, als ich bei einem von Jean-Christophe Ammanns Szenenwechseln unverhofft «Johanna» gegenüberstand. Ich erinnere mich haargenau, wie ich eine breite Treppe hochstieg und dann auf einer der obersten Stufen wie vom Blitz getroffen stehen blieb. Ich war nur noch ein gebannter Schauender. Das Bild zog mich magisch an. Johanna aber hielt Abstand. Rasch begriff ich das Spannungsfeld von Nähe und Distanz: Tritt man Gertschs Porträts zu nahe, verliert man sie aus den Augen.

Mit dem Tod von Franz Gertsch kurz vor Ende Jahr hat der Kanton Bern eine weltweit hochgeschätzte Künstlerpersönlichkeit verloren. Unersetzbar für seine Familie und Freunde, bleibt er uns allen gegenwärtig durch sein Werk. Vieles hat Eingang gefunden in Sammlungen bedeutender Museen in aller Welt. Wir Bernerinnen und Berner haben das Privileg, unweit von Burgdorf zu leben, wo wir im Museum Franz Gertsch den genannten Bildern oder anderen Hauptwerken sporadisch oder sogar dauerhaft begegnen können. In der Kunstsammlung des Kantons Bern ist Franz Gertsch mit Frühwerken vertreten. Das Kunsthaus Interlaken wird ab Juni 2023 einen Einblick in diese Sammlung gewähren und auch Gertschs «schöne Weite» aus dem Jahr 1955 zeigen, welche im Ausschnitt den Auftakt zu diesem Newsletter gibt.

Ein anderes Frühwerk von Franz Gertsch blieb am Ort erhalten, für den es der Künstler geschaffen hatte. Im Nydegg-Kirchgemeindehaus in der unteren Berner Altstadt kam bei einer Renovation ein Wandbild aus dem Jahr 1964 zum Vorschein. Als dieses den früheren Besitzern nicht mehr in den Kram passte, zerstörten sie es nicht, sondern verdeckten es einfach hinter einer Gipsplatte und erhielten es damit der Nachwelt, leider ohne es zu dokumentieren oder zu kontextualisieren. Deshalb ging es bei der Wiederentdeckung Jahrzehnte später um ein Haar verloren. Zuerst erkannte man dessen Herkunft und Wert nicht. Es ist der Kunsthistorikerin Anna Schafroth (1961–2021) zu verdanken, dass dieses Wandbild erhalten blieb. Sie erkannte in ihm zwar kein Schlüsselwerk, aber einen Zeugen der Schaffenskrise des Künstlers in den späten 50er und frühen 60er Jahren, unmittelbar bevor er zu seinen unverwechselbaren neuen Ausdrucksmitteln fand.
Inzwischen wurde das vorübergehend geringgeschätzte Wandbild sorgfältig restauriert und hat sogar Eingang in einen Kunstführer der Gesellschaft für Schweizer Kunstgeschichte gefunden. Der Zeitgeist ändert sich. Kunst kann den Moment für die Ewigkeit festhalten. Sie mit Sorgfalt zu behandeln und zu pflegen, gehört deshalb zu den Kernaufgaben der Kulturpolitik eines Gemeinwesens. Die Kirchgemeinde Nydegg hat ihre Verantwortung wahrgenommen.

Hans Ulrich Glarner, Vorsteher Amt für Kultur des Kantons Bern

Die Gedenkfeier zum Tod von Franz Gertsch findet am Montag, 13. Februar 2023 um 14 Uhr im Berner Münster statt. Der Anlass ist öffentlich, anschliessend gibt es ein Apéro im Rathaus Bern. Es ist keine Anmeldung erforderlich bzw. möglich.

  • Museum Franz Gertsch

  • Kunsthaus Interlaken

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