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Tiefengrabung, leicht gemacht

Wo wir stehen und gehen, war immer schon eine frühere Gegenwart: Just unter unseren Füssen führt der Lauf der Geschichte Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende zurück. Dass wir immer nur die Jetzt-Zeit als «reale Realität» empfinden und uns die Zukunft als Fortsetzung des Bisherigen vorstellen, liegt wohl in unserer Natur. Oder haben Sie sich den Kanton Bern schon einmal mit Olivenbäumen statt Weizenfeldern, doppelt oder halb so grosser Fläche, ein- oder dreisprachig vorgestellt?

Um ehrlich zu sein: Ich bin froh, den Zukunftsforscherinnen und -forschern die spekulativen Szenarien zu überlassen. Und ich bin dankbar, wenn ich das Zurückliegende, faktenbasiert, vermittelt bekomme. Denn ich will verstehen, aus welchen Zusammenhängen sich unsere Gegenwart entwickelt hat – um so auch besser mitgestalten können, wohin der Weg in die Zukunft führt.

Leider brauchte es bis vor kurzem (gefühlt) einen Gabelstapler, wenn man sich die Geschichte des Kantons Bern auf den Nachttisch laden wollte. Nun aber halte ich die «Geschichte des Kantons Bern. Von der Eiszeit bis heute» auf schlanken, gut bebilderten 350 Seiten in den Händen. Sie nimmt mich mit auf eine Zeitreise, von den ersten Menschenspuren vor 30'000 Jahren im Simmental, nach Twann zum ältesten Sauerteigbrot Europas, 3'500 v. Chr. gebacken. Sie schifft mich durchs Mittelalter, ich sehe den Stadtstaat Bern wachsen, bis hin zum Genfersee und Aargau. Ich verfolge die Zerschlagung Gross-Berns, grüsse den temporären «Kanton Oberland» und erkenne die historische Tektonik des noch immer gut bewirtschafteten Stadt-Land-Grabens.

Ich sehe, wie das einstige Adelswesen gegenüber dem Unternehmertum fremdelt und Bern seinen mächtigen Schwung verliert. Ich folge dem Trassee des Jura-Konflikts, durchschweife Jahrzehnte der Armut, des Wiederaufschwungs und staune darüber, wie der Grosse Rat anfangs der 1930er-Jahre per Dekret die neue «Tanzsucht in die Bahnen zu leiten» versucht. Die Uhrenindustrie im Norden des Kantons erfindet sich wiederholt neu und nach Jugendunruhen in Biel und Bern rollt schliesslich auf der letzten Buchseite der Ball zum YB-Meistertitel von 2018 ins Goal…womit das Spiel von neuem beginnt. Und ich vom zügigen Ritt durch alle Kantonsgebiete erst mal eine Verschnaufpause einlegen muss.

Initiiert vom Historiker Christian Lüthi, haben sechs Historikerinnen und Historiker –mit Regine Stapfer und Armand Baeriswyl auch zwei Mitarbeitende des Amts für Kultur – die Geschichte des heutigen Kantons Bern in ihren relevanten Zügen zu Papier gebracht. Vergleichsweise handlich, wissenschaftlich fundiert, in der schieren Fülle des Erzählbaren aufs Wesentliche fokussiert.

Entstanden ist ein relevantes Sachbuch für alle, die verstehen wollen, auf welchem Boden sie stehen und gehen, wenn sie im geografisch-politisch-kulturell vielschichtigen Gewebe zwischen den heutigen Kantonsgrenzen unterwegs sind. Nun fehlt nur noch die französische Übersetzung. Denn, so habe ich staunend erfahren, schon steinzeitliche Funde zeigen die sensible Naht der Sprachgrenze. Umso wichtiger ist es, die Vergangenheit und Gegenwart zweisprachig zu (er)leben.

Sibylle Birrer, Vorsteherin Amt für Kultur des Kantons Bern

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