Nach dem Wolf auf dem Chasseral und dem Bären im Eriz hält nun eine Boa den Oberaargau in Atem.
Nicht, dass beim Tierpark Langenthal eine Boa constrictor ausgebüxt wäre. Nein, es ist eine Boa bibliophilis, die mit ihren Schuppen aus Buchseiten vielsprachig durch die östlichste Region des Kantons Bern züngelt. Unter dem Kürzel BOA haben sich die drei Bibliotheken von Herzogenbuchsee, Huttwil und Langenthal in einem Verbund zusammengeschlossen. Für die künftigen Nutzerinnen und Nutzer der Bibliothek Oberaargau wird sich damit der Medienbestand vervielfachen, das Veranstaltungsangebot ist koordiniert, ein gemeinsamer Bibliothekspass und ein Kurierdienst erleichtern den Zugang. Die initiativen Teams tauschen sich auf allen Ebenen aus und arbeiten zusammen. Obacht: Die Oberaargauer Boa ist auch nachts und in den frühen Morgenstunden unterwegs.
Doch diese Geschichte beginnt eigentlich in Grosshöchstetten. Hier ist das Bibliothekswesen schon geraume Zeit Teil des Nachtlebens. Wer heute eine Gemeindebibliothek leitet, ist neben Medienfachfrau auch Unternehmerin, die das Umfeld analysiert, den Markt testet und bearbeitet, die investiert und riskiert. Warum soll bei einer Bibliothek das Hofladenprinzip mit freiem Kundenzugang nicht auch funktionieren? Das hat sich die Bibliotheksleiterin von Grosshöchstetten gefragt und nach skandinavischem Vorbild im Sommer 2020 als erste Dorfbibliothek der Schweiz ihre Institution in eine Open Library verwandelt. Geöffnet von 6 Uhr in der Früh bis 11 Uhr nachts und dies an 365 Tagen pro Jahr. Bei unverändertem Personalbestand, versteht sich. Dafür mussten zuerst das Team begeistert, dann die vorgesetzten Behörden überzeugt und viel Fundraising betrieben werden. Schliesslich braucht es für das Modell einen RFID-tauglichen Medienbestand. Erst ein eingefügter Chip ermöglicht die kontaktlose Selbstausleihe. Das Experiment war von Erfolg gekrönt. Heute hat die in einem malerischen Bauernhaus aus dem 19. Jh. untergebrachte Gemeindebibliothek mehr Nutzerinnen und Nutzer und eine deutlich grössere Reichweite.
Nun wagt auch die Bibliothek Huttwil diese Transformation. Ab 15. September ist diese BOA-Institution für ihre Benutzenden 17 Stunden pro Tag geöffnet. Damit wird sie den Kundenbedürfnissen im weitläufigen, die Kantonsgrenze Bern/Luzern ignorierenden Einzugsgebiet besser gerecht. Das Amt für Kultur, die Gemeinde und ein Service-Club steuerten die benötigten Zusatzmittel bei, damit dieser Entwicklungsschritt möglich wurde. Auch die Kornhausbibliotheken in Bern sind mittlerweile auf den von Grosshöchstetten durch das Bernbiet brausenden Open Library-Zug aufgesprungen und testen am Hauptsitz und in mehreren Zweigstellen das Modell. Schliesslich ist das Hofladenprinzip mit hippen Verkaufsboxen zwischenzeitlich auch im Stadtquartier angekommen.
Die BOA ist mit einem frischen Erscheinungsbild und vielfältigen Inhalten im Oberaargau unterwegs. Möge sie eine breite Bevölkerung zur Benutzung verführen. Bibliotheken gehören zu den wichtigen öffentlichen kulturellen Einrichtungen. Mit ihren Werten, ihrem Angebot und ihren Mitarbeitenden leisten sie einen Beitrag zur Bewältigung von gesellschaftlichen Herausforderungen und für den Zusammenhalt in Quartieren, Gemeinden und Regionen.
Hans Ulrich Glarner, Vorsteher Amt für Kultur und Vorstandsmitglied von Bibliosuisse