Literaturpreisverleihung 2023

Warum nur kann ein Leben derart glücklos sein, wie dasjenige von Adelina? Als Tochter italienischer Einwanderer lebt sie in der Schweiz der 60er und 70er-Jahre. Hat Adelinas hartes Schicksal bereits seinen Lauf genommen bei ihrer Geburt wegen ihrer Nationalität? Auf jeden Fall hat das Schweigen in ihrer Familie auch um das Kriegstrauma ihres Vaters nichts Gutes gebracht. Einzig Schulden hat er ihr am Ende vererbt. Gewiss auch der Tatsache geschuldet, fast Analphabetin zu sein, steht Adelina dann am Fliessband in einer Fabrik in Zürich und jobbt in einer Bar. Neun Jahre Schweizer Schulbildung konnten das nicht verhindern. Ein kurzes Liebesglück reisst die junge Frau aus ihrer Tristesse, endet aber schnell
und führt in die alleinerziehende Mutterschaft. Adelina verliert ihren Job, ihre Wohnung und im Überlebenskampf fast noch ihre Würde und ihre kleine Tochter Emma. Lukas Bärfuss ist einer der grössten Schriftsteller der Schweiz. Er verliert nie seine Empathie für die Not und Angst der Ärmsten in unserem reichen Land und nie seinen Biss mit seiner Kunst dagegen anzuschreiben. 

Seine klare, virtuose Sprache eröffnet ganze Welten. Schonungslos konfrontiert er unsere Wohlstandsgesellschaft mit den gravierenden Missständen, welche in unserer Zeit und Politik herrschen. Es ist weitaus mehr als eine Krume Brot, welche uns Bärfuss mit dem ersten Band, dem Auftakt einer Trilogie vorsetzt. Dieses Werk kann und muss auf den Magen schlagen, nur so merken wir, was wir angerichtet haben. Es gilt, dem grossen Meister zu danken, dass er immer an die Schwächeren denkt. Es ist mir eine unbeschreibliche Freude, Lukas Bärfuss im Namen des Kantons Bern und dessen deutschsprachiger Literaturkommission zum diesjährigen Literaturpreis zu gratulieren. Möge er uns auch weiterhin keine Schonkost auftischen, sondern uns Literatur für Hirn, Geist und Leben kredenzen.

Die einfache Aufforderung: Spring doch!
Das Abenteuer eines ganzen Tages.

«Ich gump hüt Nåmittag vom Dreimeter.»

Wer kennt das nicht? Wenn in der Turnstunde die Teams gewählt werden und völlig klar ist, ich bin – wieder mal – die Letzte. Die Lehrperson kriegt gar nichts mit, die Gemeinheiten fliegen durch die Luft, die Rollen sind verteilt. So geht es Lena, und sie hat die Schnauze voll. Kein Bock, länger der Underdog zu sein. Ihr wird klar,

«Ich müest eifach öpis chöne,
wa susch niemert cha.»

Dieses «öpis» ist der Sprung vom Dreimeterbrett. Damit hat sie sie alle. Niemand glaubt Lena, niemand traut es ihr zu. Alle wollen es sehen. Es gibt kein Zurück. Ein starker Einstieg. Dann ein Cliffhanger. In der Folge sehen, oder besser: hören wir, wie Lena nach Hause geht, ihre Badesachen schnappt, sich davonschleicht, alleine mit dem Bus zur Badi fährt, beinahe ohne Fahrschein erwischt wird, sich fast in der Umkleidekabine einschliesst und von den anderen aus ihrer Klasse gehänselt wird, als sie zum Sprungturm geht.

Andri Beyelers Text ist Rhythmus. Er schafft es mit Leichtigkeit, seinen Figuren eine ganz eigene Sprache zu geben, sie denken und handeln zu lassen und zugleich ganz nah am Publikum zu sein. Häufig sprechen die Figuren zu sich selber, mehr nebeneinander als miteinander. So entstehen Bilder, in denen jede Figur in ihrer Welt ist und diese Welten sich berühren. Eine geniale Komposition, in der die kindliche Erlebniswelt gleichwertig neben der erwachsenen steht. Ein Text, in dem Humor und Ernsthaftigkeit Hand in Hand gehen.

In acht Szenen, auf 22 Seiten schreibt Andri Beyeler ein Theaterstück, das auch Tanzstück ist und Grundlage für eine Kinderoper. Bravo! Ein wunderbarer Wurf. Herzliche Gratulation, im Namen der Kommission, zum Literaturpreis des Kantons Bern.

Es ist ein Märchen, das dem hier und heute gefeierten Stück von Kim de l’Horizon für Bühnen Bern zugrunde liegt. Allerdings tritt die Hexe darin eher cool als grimmig auf, Hänsel kommen die Haut und am Ende gar das Menschsein abhanden, Greta ist zeitgemäss eine Aktivistin – und das zahlreiche Theaterpublikum tendenziell nicht angegraut.

Das könnte ein kultiger Relaunch in dramatischer Form sein, gerät aber zur schaurig-glitzernden Travestie der Knusperhäuschen-Geschichte, denn die verlorenen Kinder müssen nicht bloss sich selbst, sondern auch einer müden Frührentnerin und Gestellauffüllerin namens Erde zu Hilfe kommen. Das versuchen sie in Form von angeblich 13 turbulenten Übungen. In der siebten summiert ein bewegender Trauermonolog – bereits vor dem Erscheinen des Sadness Book auf Tiktok – das Leiden der Jugend am Zustand dieser Erde. 

Der Rest ist Big Drag Queen Story Time: Was für die Kinderstunde in Bibliotheken von Australien bis Züri Polizeischutz erfordert und in Russland ein panisches Bildverbot von Wladimir im Fummel nach sich zieht, beschwört auf Kims Bühne die grossartige Symbiose von Kreatur und Materie. Denn die Rettung vor der Katastrophe gelänge mit der Absage an den Anthropozentrismus, ästhetisch gefeiert im camp style, als hätte Shakespeare Pate gestanden.

Im Hexenkessel mengt und mischt sich denn auch die Sprache zum Zaubergebräu gegen Starre und Intoleranz. – Too funky für Bern? – Das Theaterstück erhält den Literaturpreis des Kantons Bern, weil es sprachlich Neuland betritt, das alte Machtgefüge verhext und überkommene Weltbilder zersetzt, für eine offene Gesellschaft plädiert und die philosophische Frage stellt, ob Märchen wirklich wahr werden sollen.

Ein Tiroler Familientreffen. Es wird geredet und gelacht, von Menschen und Mäusen erzählt, Anekdoten werden repetiert – und plötzlich drückt einer die Stopp-Taste. Das Gebrabbel verstummt. Es ist der Giggi. Der Giggi ist Dichter, und er hat im grossen Rauschteppich ein Wort gehört, darin war ein ganzes Gedicht!, aber jetzt ist es weg. Er ist verzweifelt. Da bleibt nur eins, back to start, «zrugg». 

Er bittet alle, das bislang Gesagte zu wiederholen. Das entbehrt keiner geringen Komik, zumal im Tiroler Dialekt, der dem Text eine eigenwillige Musikalität verleiht. Meisterhaft, mit welch zartem Tasten und gleichzeitiger Hartnäckigkeit Händl Klaus seine Figuren in dies schwere Rennen schickt.

Das Themenspektrum, das dabei aufgerufen wird, macht aus «Zrugg» ein so zeitgemässes wie zeitloses Stück: Vom Tierschutz über gleichgeschlechtliche Beziehungen bis zur Frage «Wie lebt man im Alter?» einerseits wird auf der anderen Seite nichts Geringeres verhandelt als die ewige Suche des Dichters
nach dem einen Wort, dem einen Quell.

Im grossen Sprach- und Geschichtenteppich, der die Welt umwabert, hat ihn etwas gestreift, ein göttlicher Funke vielleicht. Dass dieser Funke auch den Autor des Stücks getroffen hat, ist evident. Damit gehört Händl Klaus zu jenen Lotsen, die uns souverän in die grosse Zauberwelt des Feinstofflichen zu entführen vermögen, in jene geheimen Winkel, in denen die Musenküsse schlummern.

Dieses Buch könnte eine Anklage sein. Doch für Anklagen sind Staatsanwaltschaften zuständig. Dieses Buch könnte eine Abrechnung sein. Doch für Abrechnungen sind Finanzabteilungen zuständig. Dieses Buch könnte ein Horrortrip sein. Doch für Horrortrips sind Trash-Regisseurinnen oder Chemielaboranten zuständig.

Man merkt schon anhand der Aufzählung – Sarah Elena Müller hat sich für ihren Erstlingsroman keinen leichten Stoff vorgenommen, und entsprechend ist dies auch keine, wie man gern sagt, «leichte Lektüre». Aber die Autorin weiss, dass Sprache wie eine Haut funktioniert: Sie schützt und schafft Distanz, sie ermöglicht aber auch Berührung mit der Welt da draussen. So wird in dieser Annäherung an eine schwierige Familiengeschichte niemand ausgestellt, es wird niemand vorgeführt, es wird ganz einfach erzählt, mit klaren, konzisen Worten. Ganz selbstverständlich wird so psychologisch Grenzwertiges in Literatur verwandelt.

Das eigentliche Schreib-Kunststück liegt aber darin, dass sich die Handlung um eine Leerstelle dreht, um ein Verschwiegenes, das beim Lesen nur ganz langsam zutage tritt. Was allzu oft unbenannt und unverhandelt bleibt kommt hier wortwörtlich zur Sprache, auf ganz unsentimentale, aber deswegen nicht weniger einfühlsame Weise. Man verfolgt das mit Staunen: Die Schwierigkeiten addieren sich bei diesem Sprung ins Erzählen, am Schluss aber landet die Autorin sicher wieder auf den Füssen. Wir zücken hohe Noten und freuen uns, davon in Zukunft noch mehr zu sehen.